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„Industrie 4.0 verändert viele Dinge grundlegend“

Interview mit Lukas Klingholz
„Industrie 4.0 verändert viele Dinge grundlegend“

"Industrie 4.0 verändert viele Dinge grundlegend"
Lukas Klingholz ist Referent Big Data und Künstliche Intelligenz beim Branchenverband Bitkom. Bild: Bitkom

Viele Unternehmen befinden sich auf dem Weg in die digitale Transformation. Im Interview spricht der Referent für Big Data und Künstliche Intelligenz beim Bitkom, Lukas Klingholz, über das Leitbild 2030 der Plattform Industrie 4.0, den neuen Mobilfunkstandard 5G und den Digitalisierungsgrad in Deutschland.

 

Das Interview führte unser Redakteur Thomas Wagner

Industrie.de: Herr Klingholz, das Leitbild 2030 der Plattform Industrie 4.0 klingt erst einmal ganz toll: Digitale Infrastruktur aufbauen, Sicherheit gewährleisten, gute Bildung. Trotz Versprechungen gibt es aber noch nicht einmal durchgängig LTE auf Hauptstrecken der deutschen Bahn, im ländlichen Raum gibt es beträchtliche Flächen, in denen es gar kein Netz gibt. Sind das also alles nur gute Wünsche, oder steckt wirklich etwas dahinter?

Lukas Klingholz: Ganz generell kann man sagen: Die drei Ziele Souveränität, Interoperabilität und Nachhaltigkeit sind sehr gut. Aber Sie haben recht, auf dem Weg bis 2030 muss sich noch eine Menge tun. Ich will das aber erst einmal auf eine breitere Ebene heben. Bei Industrie 4.0 werden sich viele Prozesse der Industrie und dem klassischen IKT-Bereich vernetzen. In Zukunft wird vernetzte industrielle Produktion eine große Rolle spielen, auch mit 5G. Aber auch mit vielen anderen Technologien, die die Grundlage für Industrie 4.0 sind. Zum einen gibt es da die Plattformen, die wir aus dem B2C-Bereich kennen und die in Zukunft eine größere Rolle im B2B-Bereich spielen werden – basierend auf Cloud-Services und digitalen Infrastrukturen.

„In Zukunft wird vernetzte industrielle Produktion eine große Rolle spielen, auch mit 5G“
— Lukas Klingholz, Referent Big Data und KI beim Bitkom

Durch die Digitalisierung von Prozessen haben wir außerdem die Möglichkeit, verschiedene Geräte zu tracken, sowohl in der Produktion als auch in der Lieferkette. Dadurch entstehen neue Herausforderungen und Chancen für die physische Produktion, aber auch für die IT und die IT-Sicherheit, für Authentifizierungsfragen, für Megatrends wie KI und Big Data, für Optimierung von High-Performance-Computing und auch mittelfristig Quantencomputing und für den 3D-Druck, um mal die ganze Breite dieser Themenpalette zu skizzieren. Industrie 4.0 verändert viele Dinge grundlegend. Und die Technologien aus dem ITK-Bereich ermöglichen die Digitalisierung der Produktion.

Industrie.de: Fallen dadurch nicht noch mehr Daten als bisher an? Sind Technologien wie 5G in der Lage, dieses Plus an Daten zu verarbeiten?

Klingholz: Das kommt auf den Use Case an. Es gibt Bereiche, in denen man auch ohne diese Technologie auskommen kann. Aber 5G hat den entscheidenden Vorteil, dass sehr hohe Datenmengen sehr schnell übertragen werden. Zudem ist die Latenz, also die Verzögerungszeit, gering. Für Real-Time-Anwendungen ist dies entscheidend. Etwa beim autonomen Fahren: Hier ist ein Live-Tracking im Bereich von Millisekunden notwendig, außerdem eine extreme Genauigkeit beim Erkennen der Standorte. Ohne 5G geht es dabei nicht.

Industrie.de: Das Budget, das Unternehmen für Industrie 4.0 eingeplant haben, liegt laut Bitkom-Studie von 2019 bei fünf Prozent des Gesamtumsatzes. Ist das genug?

Klingholz: Industrie 4.0 bedeutet nicht nur, dass die Produktion digitalisiert wird. Sondern auch, dass ganz neue Geschäftsmodelle geschaffen werden. Die Frage lautet also: Was muss ein Unternehmen investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Klar ist: In Zukunft werden vermehrt digitale Services angeboten, das ist eine der Entwicklungen von Industrie 4.0. Früher hat ein Unternehmen Reifen verkauft, in Zukunft verkauft es Mobility as a Service. Früher hat eine Firma Produktionsanlagen verkauft, morgen verkauft sie Produktion as a Service.

„Diese Transformation findet statt und ihr müsst euch damit beschäftigen“
— Lukas Klingholz

Der Kunde erwirbt in diesem konkreten Beispiel also keine Produktionsanlage mehr, sondern vielmehr die Dienstleistung der Produktion durch ein anderes Unternehmen. Diese ganze Entwicklung ist auch eng mit der Plattform-Ökonomie verknüpft, die immer stärker im B2B-Bereich zum Tragen kommt: Auf den Plattformen werden Angebot und Nachfrage zusammengebracht. Unternehmen, die Produktionsaufträge nachfragen, werden mit den Unternehmen vernetzt, die diese Produktion ausführen können. Um es zusammenzufassen: Unternehmen im Industriekontext sollten sich fragen, was ihr aktuelles Geschäftsmodell ist, wie die Geschäftsmodelle der Zukunft aussehen und was sie tun können, damit sie neue Services anbieten können, um so wettbewerbsfähig zu bleiben. Als Verband kann man natürlich en détail nicht sagen, „so viel musst du investieren!“, aber man kann sagen: diese Transformation findet statt und ihr müsst euch damit beschäftigen.

Industrie.de: Nehmen wir doch mal ein konkretes Beispiel: Ich bin ein kleiner Schraubenhersteller aus der Provinz. Digital an mir ist nur mein Firmenlaptop. Was empfehlen Sie mir?

Klingholz: Ein Schraubenhersteller hat wahrscheinlich große und teure Maschinen, die ihm die Schraubenproduktion ermöglichen. Unabhängig von Services wäre der erste Schritt, diese Maschinen, die hin und wieder auch ausfallen, für kleines Geld mit Sensoren auszustatten. Dadurch könnte man vorausschauend – predictive maintenance – sehen, was mit der Maschine passiert. Wo gibt es vielleicht Wartungsbedarf und kann ich so Ausfallzeiten verhindern und Kosten sparen? Mit Sensorik und KI kann man außerdem mittels Bilderkennung die Qualitätssicherung optimieren.

Im konkreten Fall des Schraubenherstellers muss man auch überlegen, welche Services man über den Verkauf von Schrauben hinaus anbieten kann. Kann ich durch den Schraubenverbrauch meines Kunden besser verstehen, wie bei ihm die Nachfrage funktioniert und ihm dadurch bessere Services anbieten? Mit diesen Fragen sollte man sich befassen. Es ist immer auch hilfreich, einen Blick auf die Services der verschiedenen Anbieter im Ökosystem zu werfen.

Industrie.de: Empfehlen Sie kleinen und mittleren Betrieben eher Hilfe von außerhalb des Unternehmens?

Klingholz: Das kann man so generisch nicht sagen. Grundsätzlich macht es Sinn, sich mit den Leuten zusammenzusetzen, die an der Produktion oder an den Prozessen beteiligt sind. An vielen Stellen macht es aber auch Sinn, mit externen Experten zu sprechen. Aber das hängt auch immer vom Einzelfall ab.

„An vielen Stellen macht es Sinn, mit externen Experten zu sprechen“
— Lukas Klingholz

Industrie.de: Stichwort Startups: In einem Artikel des Bitkom steht, dass es Startups im Industrie 4.0-Bereich an Konzepten bzw. Ideen mangelt. Woran liegt das?

Klingholz: Im Industrie 4.0-Umfeld sind die Fixkosten für Startups relativ hoch. Ganz im Gegensatz zum B2C-Bereich, in dem man relativ einfach mit ein paar Laptops schnell was entwickeln kann. Bei der Produktion stellt sich die Frage nach Wachstumsfinanzierung und der Finanzierung ganz generell. Die Finanzierungsbedingungen sind nicht optimal. Durch diese Faktoren ist es für ein Startup in diesem Bereich nicht so einfach, mal eben eine Branche zu „disruptieren“.

Industrie.de: Im Leitbild 2030 ist auch der Klimaschutz aufgeführt. Kann Industrie 4.0 tatsächlich dazu beitragen, das Klima zu schonen? An digitalen Services und Hochtechnologie wird ja immer öfter die hohe Umweltbelastung kritisiert, denken wir an Bitcoin, Netflix oder die Smartphone-Nutzung im Allgemeinen.

Klingholz: Unternehmen haben grundsätzlich das Ziel, ihre Energiekosten gering und ihren Ressourceneinsatz effizient zu halten. Durch die Digitalisierung können verschiedene Prozesse besser verstanden und noch effizienter gestaltet werden. Die grundsätzliche Tendenz, dass der Weg in Richtung Industrie 4.0 und Digitalisierung automatisch mehr Energieverbrauch bedeutet, würde ich erstmal nicht sehen. Dennoch steht die Industrie vor großen Herausforderungen, denen sie sich auch stellt.

Industrie.de: Ein weiterer Punkt im Leitbild lautet „gute Arbeit und Bildung“. Wie steht es denn um das Bildungsland Deutschland im Bereich Digitales? Startups etwa müssen immer häufiger auf Fachkräfte aus dem Ausland zurückgreifen.

Klingholz: Die digitale Transformation muss auch in Deutschlands Schulen vorangetrieben werden. Dabei geht es um drei Säulen: eine digitale Infrastruktur, digitale Inhalte und entsprechend digital qualifizierte Lehrkräfte. Der Erwerb von digitaler Kompetenz muss durch die fächerübergreifende curriculare Verankerung digitaler Bildungsinhalte und digitaler Technologien gewährleistet werden – das gilt selbstverständlich auch für Universitäten und Berufsschulen. Dass der Fachkräftebedarf zum Teil aus dem Ausland gedeckt wird, belegt, dass hier eine Nachfrage besteht. Das monieren auch immer wieder Firmen, die mit neuen Technologien wie etwa dem 3D-Druck zu tun haben. Deswegen brauchen wir da konkrete Verbesserungen im Bildungssystem.

„Dass die Chinesen generell eine höhere Expertise haben, würde ich nicht sagen.“
— Lukas Klingholz

Industrie.de: Gibt es in China – alleine schon durch die große Bevölkerung – vielleicht eine größere Menge an klugen Köpfen? Verfügen die Chinesen über mehr Expertise als wir?

Klingholz: China hat natürlich ein großes Arbeitskräftepotenzial, aber dass die Chinesen generell eine größere Expertise haben, würde ich nicht sagen. Wir haben in Deutschland sehr gute technische Universitäten, auch sehr gute Informatikfakultäten, an denen gute und qualifizierte Fachkräfte ausgebildet werden. Allerdings stehen wir vor großen Herausforderungen: Quer durch alle Branchen werden IT-Spezialisten händeringend gesucht. Dieses Problem wird durch den demografischen Wandel noch verstärkt. Wir müssen aufpassen, dass der Fachkräftemangel bald nicht zur Wachstumsbremse wird.

Industrie.de: Sind auch Unternehmen verpflichtet, ihre eigenen Fachkräfte – selbst, wenn diese fachfremd sind – in diesem Bereich weiterzubilden?

Klingholz: Weiterbildung ist auf jeden Fall ein Thema für Unternehmen. Es liegt ja in ihrem ureigenen Interesse, dass die eigenen Mitarbeiter mit den neuen Entwicklungen Schritt halten können. Viele Unternehmen sind da auch sehr engagiert: 81 Prozent der Industrie-Unternehmen haben in einer Bitkom-Studie angegeben, dass ihnen die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter wichtig sei. Klar ist: Digitale Kompetenz wird in Zukunft genauso wichtig sein wie fachliche Kompetenz, und zwar quer durch alle Branchen.

Industrie.de: Muss der Staat die Unternehmen dabei unterstützen?

Klingholz: Der Wissens- und Ausbildungsbedarf wird durch schnellere Innovations- und kurze Produktzyklen immer größer. Digitale Bildung langfristig zu garantieren, muss gemeinsames Interesse von Politik und Wirtschaft sein. Für den Erwerb und die Weiterentwicklung digitaler Kompetenzen müssen einschlägige Förderprogramme aufgelegt werden, die unter anderem steuerliche Anreize sowohl für Unternehmen als auch für Erwerbstätige beinhalten. Gleichzeitig müssen Unternehmen Strategien für einen kontinuierlichen Bildungsprozess etablieren. Das wird nur funktionieren, wenn auch die Führungskräfte systematisch dafür sensibilisiert werden, dass kontinuierliche Weiterbildung notwendige Grundlage für zukünftigen Erfolg ist.

Industrie.de: An welcher Position sehen Sie Deutschland international im Bereich Industrie 4.0?

Klingholz: Deutschland steht relativ gut da, diese Einschätzung deckt sich mit einer Umfrage, die wir zur Hannover Messe gemacht haben. Aber auch andere Länder schlafen nicht, etwa Japan, China oder die USA. Dort geschieht eine Menge in diesem Bereich.

Industrie.de: Was machen diese Länder beim Thema Industrie 4.0 besser?

Klingholz: Das lässt sich so genau nicht sagen, da es auch immer abhängig vom System ist. In China etwa gibt es strategische Ziele – etwa Made in China 2025 –, die staatlich reguliert werden. Das funktioniert für China gut, weil es zum System passt. Aber man kann Ansätze und Verfahren aus anderen Systemen nicht 1:1 auf andere Länder übertragen. Deutschland kann sich diese Dinge anschauen und daraus lernen, aber durch andere Voraussetzungen kann man die Vorgehensweisen eben nicht kopieren. Genauso können andere Länder von manchen Ansätzen aus Deutschland lernen. Es geht darum, die richtige Strategie für die eigene Volkwirtschaft zu finden, die auch zu historisch gewachsenen Strukturen und Prozessen passt. Ich glaube aber, dass wir mit dem Leitbild 2030 gut aufgestellt sind und die richtigen Ziele verfolgen. Außerdem hilft der Dialog, den wir dadurch zwischen ITK-Unternehmen und den Industrieunternehmen etabliert haben, um Vertrauen in und Verständnis für die Veränderungsprozesse der digitalen Transformation zu haben.


Kontakt zum Bitkom

Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V.
Albrechtstraße 10
10117 Berlin-Mitte
Tel.: +49 30 275760
Fax: +49 30 27576 409
E-Mail: bitkom@bitkom.org
Website: www.bitkom.org

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