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Harald Müller (BWA) warnt vor Deindustrialisierung Deutschlands

Kritik an Energiepolitik der Bundesregierung
BWA-Chef Harald Müller: 2024 wird „Jahr der Deindustrialisierung“

BWA-Chef Harald Müller: 2024 wird „Jahr der Deindustrialisierung“
Harald Müller ist Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie. Bild: Marcus Heilscher Fotodesign

Nach Meinung von Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA), ist die Deindustrialisierung Deutschlands in vollem Gange. Die Verunsicherung in weiten Teilen der Wirtschaft sei seit letztem Jahr derart hoch, dass Produktionsverlagerungen ins Ausland längst in großem Stil vorbereitet und teilweise schon durchgeführt werden.

Dies wisse der BWA-Chef aus Gesprächen mit Vorständen, Geschäftsführern und Betriebsräten aus dem Mittelstand und der Konzernwelt. „Es geht nicht mehr um die Frage ob, sondern nur noch um die Fragen wie und wie schnell“, sagt Harald Müller.

Als Ursachen für diese Entwicklung macht der BWA-Chef „fundamental falsche Weichenstellungen in der Energiepolitik“ aus. Er sagt: „Weite Teile der Wirtschaft haben das Scheitern der sogenannten Energiewende vorausgesehen und längst Maßnahmen ergriffen, um sich davor zu schützen. Die Abwanderung ist nur die ultima ratio einer Entwicklung, die schon lange absehbar war.“

Wandern ganze Wirtschaftszweige ab?

Der Chef der Bonner Wirtschafts-Akademie sieht ganze Wirtschaftszweige ins Ausland abwandern. Dazu zählt er die Chemische Industrie, die Metallverarbeitende Industrie und die Automobilproduktion inklusive der jeweiligen Zulieferernetze. Er gibt ein Beispiel: „Die Chemiestandorte leben davon, dass sich rund um die Großindustrie ein ganzes Geflecht kleinerer Firmen angesiedelt hat. Geht der Große, folgen die Kleinen.“

Harald Müller wisse aus Beratungsprojekten der BWA, dass viele chemische Fertigungsanlagen nach der regelmäßigen Revision gar nicht mehr in Betrieb genommen werden. „Es ist wirtschaftlicher, die Anlagen stillstehen zu lassen, als sie mit völlig überhöhten Energiekosten zu betreiben“, nennt er die Gründe. Müller beklagt: „Die Politik kennt diese Zusammenhänge meist gar nicht, sondern feiert sogar noch den Rückgang beim Verbrauch fossiler Energieträger, ohne zu wissen, dass stillgelegte Produktion die Ursache dafür ist. Daher fällt es oftmals gar nicht weiter auf, wenn die Anlagen hierzulande abgebaut werden und im Ausland wieder in Betrieb gehen. Nur die Belegschaft merkt, was los ist, wenn Kündigungen ins Haus stehen.“

Müller verweist darauf, dass die Reifenproduktion in Deutschland bereits in der Abwicklung sei. Dem Automobilsektor sagt er eine ähnliche Zukunft voraus. Er erklärt: „Die politische Einbahnstraße in Richtung E-Mobilität hat ausländischen Autoherstellern vor allem aus China und den USA den Weg nach Deutschland geebnet und zugleich zu schweren Verwerfungen bei den heimischen Herstellern geführt.“ Den Versuch, die Kaufentscheidungen der Verbraucher entlang „politischer Linien von Fördern und Verboten zu lenken, statt dies dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen“, stuft der BWA-Chef als gescheitert ein. Er stellte die Zusammenhänge dar: „Die Verunsicherung auf Kundenseite führt zur Kaufzurückhaltung und damit zu Unsicherheiten auf der Herstellerseite. Die Autohersteller haben ihre Planungsbasis verloren und wissen nicht mehr, welche Stückzahlen sie in welchen Schichten überhaupt noch produzieren sollen, um nicht auf den Wagen sitzenzubleiben.“

Brückenstrompreis für BWA-Chef „regulatorische Irrfahrt“

Harald Müller verweist darauf, dass weite Teile der deutschen Wirtschaft bis zu dreimal mehr für Strom zahlen als ihre internationale Konkurrenz. „Die Politik musste handeln“, versteht der BWA-Chef, aber den Brückenstrompreis stuft er als „regulatorische Irrfahrt“ ein. Müller begründet: „Statt Investitionen in grüne Energien gezielt zu fördern, werden alle Energieformen mit der Gießkanne subventioniert. Besser wäre es gewesen, dem gewerkschaftlichen Vorschlag zu folgen, das Geld gezielt denjenigen Unternehmen zukommen zu lassen, die auf regenerative Energieformen umschwenken, um Mitnahmeeffekte zu reduzieren.“ Viele Firmen würden nämlich den Brückenstrompreis nutzen, um sich damit die ‚Brücke ins Ausland‘ finanzieren zu lassen. „Die Unternehmen nehmen mit, was sie hierzulande kriegen können, während sie die Verlagerung etwa in die USA vorantreiben“, meint Müller.

Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung erfahre in weiten Teilen der Wirtschaft eine Abfuhr, habe der Akademie-Geschäftsführer festgestellt: „Die meisten Führungskräfte aus der Wirtschaft, mit denen ich spreche, stufen den Versuch einer Wasserstoff-basierten Energiewirtschaft als unrealistisch ein“, sagt er. Als die häufigsten Argumente hört er: „Wasserstoff hat ein dreimal so hohes Volumen wie Erdgas, lässt sich nur mit hohem Aufwand und daher mit hohen Kosten transportieren und die Explosionsgefahr ist viel zu hoch.“ Nach Müllers Einschätzung geht ein Großteil der Industriemanager inzwischen davon aus, dass sich die Wasserstoffstrategie als eine „ähnliche Luftnummer“ wie die grüne Energiewende entpuppen wird. Er sagt: „Öl und Gas sind zwar politisch nicht en vogue, aber erscheinen vielen Führungskräften als die derzeit einzigen verlässlichen Energieträger für eine industrielle Produktion im großen Stil.“

Russisches Gas kommt über Drittländer nach Deutschland

Aus Projekten weiß der BWA-Geschäftsführer, dass Teile des produzierenden Gewerbes versuchen, die für sie existenzbedrohlich hohen Energiekosten durch den indirekten Import von russischem Öl und Gas zu umgehen. Der Umweg erfolge nach seinen Erfahrungen häufig über die Schweiz: Die Eidgenossen beziehen Öl und Gas aus Russland, das anschließend nach Deutschland importiert wird. Harald Müller sagt: „Die Zahlungen an die Schweiz für diese fossilen Energieträger erfolgen im Einvernehmen mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, sind also völlig legal. Es ist eine Verzweiflungstat der Unternehmen, um den unsäglich hohen Energiekosten zu entkommen und ihre Produktion der kläglichen Industriepolitik zum Trotz in Deutschland zu halten.“

Harald Müller weiß, dass diese legale Form, das Energieembargo gegen Russland zu unterlaufen, auch über andere Länder erfolgt. Er beklagt: „Die Politik erhebt den moralischen Zeigefinger und überlässt die Wirtschaft dem verzweifelten Kampf, die industrielle Produktion und damit Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten. Das wird auf Dauer nicht gut gehen.“

Nicht mehr beherrschbare Bürokratie

Neben den falschen Weichenstellungen in der Energiepolitik nennt BWA-Chef Harald Müller die Bürokratie als maßgeblichen Treiber der Deindustrialisierung. Als Beispiel verweist er auf das Verbot von Per- und Polyfluoralkylverbindungen (PFAS) aufgrund von Änderungen der Chemikalienverordnung REACH durch die EU-Kommission.

„Dadurch ist die Fertigung von Produkten, bei denen wasserabweisende Oberflächen eine wichtige Rolle spielen, von Autos bis Kleidung, in der EU drastisch erschwert worden“, sagt Müller. Er fragt sich, „ob der Bundesregierung überhaupt bewusst ist, dass PFAS auch für die Chipproduktion benötigt werden, die sie mit Milliardensubventionen nach Deutschland holt?“

Verlagerung in die USA lockt

Der BWA-Geschäftsführer resümiert: „Das Versprechen der Bundesregierung, Deutschland auf bezahlbaren grünen Strom umzustellen, wird auf Jahre nicht erfüllbar sein. Die Unternehmen harren nicht aus, bis dies möglicherweise irgendwann einmal Realität wird, sondern wandern ab. Das gilt umso mehr, als alternative Industriestandorte insbesondere in den USA verlockende Angebote machen.“ Man müsse bedenken, dass Energie in den USA ein beinahe vernachlässigbarer Kostenfaktor ist, merkt Müller an. (ah)

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